Erinnerungen an Pina

Besuch bei Willi Nett am 29.11.2022

Ein Zeitzeuge von Pina Bausch

Willi Nett ist 93 Jahre alt, sehr fit und agil, künstlerisch tätig, er drechselte viele hübsche Dinge und nun malt er und spielt leidenschaftlich gerne Boule. Er ist ausgebildeter Opernsänger und war 33 Jahre in diesem Beruf tätig. Unter anderem arbeitete er 12 Jahre mit Professor Kurt Horess in Wuppertal. Willi Nett arbeitete auch mit Arno Wüstenhöfer (geb. 9.10.1920, gest.19.7.2003) zusammen, der Schauspieler, Regisseur und Intendant war:

Von 1964 bis 1975 war er Generalintendant der Wuppertaler Bühnen. Unter Wüstenhöfers Leitung hat sich das Wuppertaler Theater zu einer der führenden Bühnen in Deutschland entwickelt.
Zu Wüstenhöfers großen Verdiensten gehört die Förderung von Pina Bausch, die er 1973 als Ballettdirektorin und Chefchoreographin an die Wuppertaler Bühnen holte, woraufhin das Wuppertaler Ballett fortan in Tanztheater Wuppertal Pina Bausch umbenannt wurde. Mit ihrer Berufung legte er den Grundstein für Bauschs internationale Karriere. (Quelle: Wikipedia)

Pina Bausch choreographierte das Stück Bacchanal Venusberg von Richard Wagner, danach holte Wüstenhöfer Pina Bausch nach Wuppertal und sie gründete 1973 das Tanztheater. Diesen Tanz hat Willi gesehen, „es war sehr modern“, sagt er. Im Juni 2013 gab es in der Folkwang Schule Essen einen Tanzabend, an dem dieses Stück noch einmal aufgeführt wurde.

Willi Nett trat zusammen mit Pina Bausch in der Oper „Yvonne, Prinzessin von Burgund“ auf, eine Oper in 4 Akten und von Boris Blacher komponiert, Regie führte Kurt Horres. Die Uraufführung war am 15.9.1973 in Wuppertal. Es basiert auf dem polnischen Stück Iwona von Witold Gombrowicz. Die Namen hatte Willi alle parat. Er hat Fotos und Alben rausgelegt und mir mit Stolz und Freude gezeigt. In dem Stück serviert er der stummen Prinzessin einen grätenreichen Fisch, ein Karauschen, damit sie daran stirbt.
Es gibt ein großes Foto von dieser Oper, wo Willi zusammen mit Pina zu sehen ist. Pina spielt eine pantomimische Rolle. Auf dem Foto sind zu sehen von links nach rechts : Pépé, Shari Borovka, Willi Nett, Pina Bausch, Herbert Graben und Inge Krüger. Es hing wohl lange Jahre bei den Wuppertaler Bühnen.

Er war auch mit dem Tanztheater auf Tournée mit dem Stück „Todsünden“.

Privat hatte Willi nichts mit Pina zu tun, nur im Job. Sie war sehr zurückhaltend und ruhig, hat immer geraucht.
Er würde sich freuen, wenn die Foundation seine Bilder haben möchte und stellt sie gerne zur Verfügung.

Text von Sabine Franzen


Pina Bausch – eine nachgetragene Liebe

„Es geht um das Leben und darum, für das Leben eine Sprache zu finden“
(Pina Bausch)

Ist es möglich, dass wir zusammen im Sandkasten spielten – zwischen den Trümmern der rheinischen Klingenstadt Solingen? Sie war etwas älter als ich, aber ich meine noch ihre langen schlanken Kinderfinger zu sehen, wie sie mit dieser sie später berühmt machenden Anmut die kleinen Backformen mit Sand füllte und sorgfältig gestürzte Kuchen herstellte, als ob sie über dieser hingerissenen Tätigkeit den Hunger und die weitgehende Zerstörung, diese Trümmerlandschaft um uns herum, vergessen machen konnte. Die Sandkiste lag in einem verwilderten Garten hinter einem der vielen zerbombten Häuser einer sich lang hinziehenden Straße, nicht weit von der Stadtmitte entfernt. Wenige Mauern dieser Gebäude waren stehen geblieben und wenn wir beim Spielen innehielten, sahen wir die Spuren des ursprünglichen Lebens in diesen Gebäuden: Hier musste die Küche gewesen sein und dort das Wohnzimmer, nur noch spärliche Tapetenreste und einzelne Fliesen ließen es uns erahnen. Wir nahmen es hin in kindlicher Unbefangenheit. Es betraf uns nicht. Unsere Erinnerung – hier und anderswo – an die schlaflosen Stunden im Luftschutzkeller, an das Dröhnen der sich nähernden Bomber, an Zerstörung und Verzweiflung lag tief in unserem Unterbewusstsein. Erst viel später sollte es auf Umwegen wieder ans Licht kommen.
Unmittelbar nach dem Ende des Krieges waren unsere Eltern in diese Stadt gezogen, die wegen ihrer bedeutenden Industrieanlagen so verwüstet worden war. Wir waren nicht dabei, als nach dem Angriff die Toten geborgen wurden – aus den zerstörten Häusern, die vielen Menschen keinen Schutz mehr geben konnten. Dieser verlassene Garten mit seinen Bäumen und Büschen und einem kleinen, weichen, grünen Rasenstück, auf dem wir lagen, träumten und spielten, war unser schönes und geheimnisvolles Refugium in dieser schweren Zeit.
Pina Bausch aber hatte den Angriff auf Solingen miterlebt. In ihrem Geburtsjahr fielen die ersten Bomben und bei dem späteren großen Bombardement der Alliierten war sie vier Jahre alt. Sie wohnte in der Mitte der Stadt, wo ihre Eltern eine Gastwirtschaft hatten. Wir können nur ahnen welch schreckliche Szenen sich damals abgespielt haben. Und legen nicht ihre Choreographien auch von dieser Zeit Zeugnis ab, sind sie nicht der Versuch einer Befreiung von Geschichte und eingeschränktem Denken? Vielleicht zeugen sie sogar von der Überwindung eines Traumas?
Tanzen bis die Bomben kommen? Tanzen nachdem die Bomben fielen?

Das vollkommen verwüstete Zentrum der Stadt wurde nach und nach wieder aufgebaut – mit den sparsamen Mitteln, die damals zur Verfügung standen, den alten, teilweise engen Straßenzügen folgend; Sinn für neue oder gar avantgardistische architektonische Strukturen hatten die Menschen damals kaum. Auch die alte, von Grund auf zerstörte evangelische Stadtkirche wurde neu erbaut. Ihr hoher schlichter Turm reckt sich noch heute wie ein mahnender Zeigefinger in den Himmel mit den in Vergangenheit und Zukunft weisenden Worten, welche die Erbauer außen anbringen ließen:
Oh Land Land Land höre des Herrn Wort.
Als wir nicht mehr im Sandkasten spielten, besuchten wir dieselbe Schule. In meiner Erinnerung meine ich unseren Schulweg zu sehen, wohnten wir doch beide in der Mitte der Stadt. Vielleicht ist es auch eine Wunschvorstellung, eine nachgetragene Liebe. Sie war zwar etwas älter als ich, aber ihre besondere Gestalt, ihre Art sich zu bewegen, konnte mir damals nicht entgangen sein. Fast eine halbe Stunde brauchten wir, um zur Schule zu gelangen. Im Sommer, wenn es sehr warm war, liebten wir es, den Weg barfuß zu laufen, die Schuhe in der Hand. Die Fußsohlen wurden stark und schmutzig und mit dem Gefühl des brennenden Pflasters unter unseren Füßen, liefen wir so schnell wir konnten; wir sprangen und flogen.
Unsere Wege haben sich schon früh getrennt. Als ihr großes Talent erkannt wurde, bekam sie ein Stipendium für die Folkwangschule in Essen und sie verließ Solingen bereits als Vierzehnjährige. Dort war eine andere, ihre Welt, in der sie schon früh gelebt hatte – mit ihrer außerordentlichen Freude an der Bewegung, aber zugleich als stille, scheue Beobachterin der Menschen in ihrer Umgebung. Im Netz, in einer Aufzeichnung mit dem Titel „Zeitzeugen“, können wir mehr darüber erfahren.
In ihrem Elternhaus gingen viele Menschen ein und aus. Eine solche Umgebung ist der Grund, auf der Geschichten wachsen. Ihre Aufführungen sprechen jedoch eine Sprache, die mit Worten nur unvollkommen wiedergegeben werden kann. Der Tanz wird zum Ausdrucksmittel in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist. Er dient das Bindemittel zwischen Menschen aller Nationen, die nur gemeinsam noch etwas bewegen können – ohne irgendeine Ideologie – als etwas, in dem sich alle wiederfinden können.
Erst spät wurde mir die große Bedeutung ihres Tanztheaters in der ganzen Welt bewusst. So sah ich in der Südschweiz, in der Ortschaft Loco im Onsernonetal, im Haus eines Wuppertaler Architekten den Raum, in dem sie mit einigen ihrer Tänzer in dieser besonderen Umgebung so gerne ihre Auftritte vorbereitete. Das Tessin wurde schon sehr früh von Künstlern und Schriftstellern als Ort der Inspiration und der Sammlung entdeckt.
Mit dem zunehmenden Wissen über ihre Herkunft, ihre Persönlichkeit und ihr Werk wuchs nicht nur mein Interesse, sondern auch dieses Gefühl, als würde ich sie schon sehr lange kennen und erneut auf eine unaussprechliche Weise mit ihr verbunden sein.
Der Film, den Wim Wenders nach ihrem Tod über sie drehte, hat meine Betroffenheit verstärkt und viele Erinnerungen an unsere Kindheit wachgerufen. Die wechselnden Schauplätze in diesem Film lassen mich wieder über ihr und mein Leben in dieser Stadt und ihre Umgebung nachdenken. Über die Zeiten, an denen wir einen Schulausflug ins Bergische Land machten, wo wir das mächtige gotische Gebäude des Altenburger Doms besuchten, das einsam im Tal der Dhünn, einem Nebenfluss der Wupper liegt. Das große, sehr alte Westfenster, auf dem das „Himmlische Jerusalem“ dargestellt wird, beeindruckte uns sehr und beflügelte unsere Fantasie – wie auch die zahlreichen Gräber der Herzöge von Berg; vor allen aber diese geheimnisvolle Reliquie: das Herz des mächtigen Erzbischofs Engelbert von Köln, das nach seiner Ermordung in die Zisterzienserabtei nach Altenberg gebracht wurde. Die Gebeine aber werden heute in der Schatzkammer des Kölner Doms in einem barocken Schrein aufbewahrt, den der Erzbischof von Bayern fertigen ließ. In der Schule durften wir zu diesem Thema das Gedicht von Walter von der Vogelweide lesen wie auch die schaurig-schöne Ballade der Annette von Droste-Hülshoff über den Kölner Dom.
In „Pina“ sieht man einige Tänzer unter einer hohen Brücke tanzen und die Szene lässt mich zurück denken an die Schwindel erregenden Fahrten über dieses ungewöhnliche Bauwerk, die „Müngstener Brücke“, die höchste Eisenbahnbrücke Deutschlands, um die sich seit ihrer Erbauung Legenden und Mythen ranken. Sie verbindet über das tiefe Tal der Wupper hinweg die Städte Solingen und Remscheid. Die Fahrt auf dieser merklich schwankenden Brücke über das abgründige Tal war ein Abenteuer, eine fast existenzielle Erfahrung, die jedes Mal, auch heute noch, nicht nur Angst, sondern auch Staunen und Bewunderung über dieses filigran wirkende Meisterwerk der Technik hervor ruft.
Der Film lässt auch die Besuche im nahe gelegenen Wuppertal wieder lebendig werden, an dieses besondere Erlebnis einer Fahrt in einem anderen, ähnlich Aufsehen erregenden Bauwerk, der Schwebebahn, die hoch in der Luft, ohne festen Boden unter den Füßen, nur an einer Schiene hängend, dem Verlauf der Wupper folgt und deren Stützpfeiler denselben Erbauer haben wie die große Brücke.
Pina Bausch bedrückende Inszenierung „Café Müller“ sagt mir besonders viel über die Jahre des Heranwachsens in dieser unserer Stadt. Es ist mehr als ihr und mein eigenes Leben, es ist auch das Porträt einer Kindheit in der damaligen Zeit und wohl deswegen fühle ich diese Nähe zu ihr – als ob ich mit ihr in diesem Sandkasten unserer zerstörten Stadt gespielt hätte.
Es ist dieses schwebende und zugleich ganz und gar zerrissene, überaus unruhige Lebensgefühl, das uns weiterhin begleiten sollte und in ihren Aufführungen wieder zu finden ist – auf Schritt und Tritt.

Text von Anette Ruttmann

Anette Ruttmann – Flammersfeld *1943 in Herford, aufgewachsen in Solingen; studierte Romanistik und Germanistik in Köln und Heidelberg. Nach längeren Auslandsaufenthalten (Spanien, U.S.A. , Niederlande) lebt sie seit 1975 in einem Dorf bei Amberg.
Sie hält Literaturkurse, Einführungen, Vorträge über unterschiedliche Wissensgebiete (u. a. Botanik); sie schreibt Interviews, Beiträge für Kunstkataloge, Festschriften und Sammelbände. 1996 erhielt sie den Würth-Essaypreis. 2022 wurden ihre Essays mit dem Titel „Poesie der Kleider“ veröffentlicht.